Freitag, 26. November 2004
"Auch wenn es schmerzt"



VON PETRUS VAN DER LET (Spectrum)
"Palästinenser sprengen Busse in die Luft." - "Und israelische Soldaten zerstören Häuser und nehmen arabisches Land." Israelische und palästinensische Schüler in einem österreichischen Friedenscamp: eine Dokumentation.






Frühling 2004. Auf dem Flughafen von Klagenfurt kommen 16 Jugendliche aus Israel mit Lehrern an: acht Mädchen und acht Burschen, die in den nächsten zehn Tagen mit Schülern des Alpen-Adria-Gymnasiums-Völkermarkt in Rechberg bei Eisenkappel ein Friedenscamp veranstalten. Die israelischen Jugendlichen kommen zur Hälfte von der jüdischen Ramot Hefer High School, einer regionalen höheren Schule in der Sharon-Ebene; die andere Hälfte stammt aus der arabischen Ibn Sina High School der Stadt Kalanswa, gehört also zur arabischen Minderheit in Israel. Sie mussten vor dem Abflug in Tel Aviv - im Unterschied zu den jüdischen Jugendlichen - eine Leibesvisitation über sich ergehen lassen, und auf den Einwand einer Lehrerin, sie wären doch alle Israelis, meinte die Zollbeamtin nur lakonisch: "Das interessiert mich nicht." Darüber sind nun eher die Erwachsenen erregt, die Jugendlichen musizieren und freuen sich, sind doch einige von ihnen zum ersten Mal im Ausland.



Das psychologische Konzept zu dem Treffen stammt von der Psychotherapeutin Evelyn Böhmer-Laufer, die ursprünglich von zwei Wiener Schulen eine Zusage erhielt, die dann widerrufen wurde. Als Produzent eines Dokumentarfilms über das Camp stellte ich den Kontakt zum Alpen-Adria-Gymnasium her, das sofort bereit war mitzumachen, und dank der Unterstützung von Susanne Shaked, der Präsidentin von Hadassah Österreich, soll die Friedensinitiative nun sogar jährlich wiederholt werden.
Schon am ersten Tag mussten die Jugendlichen bei verschiedenen Aufgaben und Aktivitäten zusammenarbeiten, und so kam man bald ins Gespräch.
Maia: Ist Kalawansa nicht neben Tulkarem?
Saida: Ja, aber auf israelischer Seite.
Anat: Neben Beit Lid? Da kam 1996 der Freund meiner Freundin bei einem Terroranschlag ums Leben.
Fuad: Mein Cousin wurde in Nablus von einem israelischen Soldaten erschossen. Genau wie die Soldaten, die an der Bushaltestelle von Beit Lid standen.
Monika: Seid ihr nicht alle Israelis? (Stille)
Maia: Ja, aber Palästinenser sprengen Busse mit Schulkindern in die Luft.
Ali: Und israelische Soldaten zerstören Häuser und nehmen arabisches Land.
Martin: Wäre es nicht besser, die Vergangenheit einfach zu vergessen, einfach das Leben zu leben?
Dan: Na klar, das sagst du - was habt ihr denn vor 60 Jahren getan? (Stille)
Monika: Hey, lasst uns Musik machen. Wer mag Metallic?
Nach den Dreharbeiten wird heftig weiterdiskutiert - vor allem unter den Erwachsenen. Yoav erwähnt, dass einige der männlichen Selbstmordattentäter ihren Penis mit Metall schützen, um ihn unversehrt ins angebliche Paradies mit den vielen Jungfrauen zu retten, und fast alle sind sich einig, dass es nur Frieden geben wird, wenn sich die Israelis von den radikalen Siedlern distanzieren und die Palästinenser von den Selbstmordattentätern.
Die Jugendlichen wollen nach den Diskussionsrunden eher die Umgebung erkunden und stellen oft verblüffend klare Fragen: Waren die Kreuzzüge nicht auch eine Art "Heiliger Krieg"? Wurde nicht Europa jahrhundertelang von Religionskriegen erschüttert? Die 16-jährige Reut findet es ungerecht, dass man sich nicht für eine Religion entscheiden kann, sondern in sie geboren wird. Und fast alle Jugendliche wollen die Welt kennen lernen, reisen, dem Anderen, dem Fremden begegnen, um es zu verstehen.
Im Vorwort zur zweiten Auflage seines Buches "Die Gnosis und der Nationalsozialismus" hat Harald Strohm diese Diesseitsfreude als Gegensatz zum Gotteskriegertum - nicht nur der Nazis - analysiert: Wie ehedem beanspruchen auch die heutigen Gotteskrieger, die Welt mit Religion und transzendent verbürgten "Werten" zu erretten. Damit aber bezeugen sie, unwissend, aber klar, die Folgen der alten Weltverlorenheit. Denn in ihrer Sehnsucht, in ihrer Sucht nach Sinn und Erlösung Mal um Mal ins Leere flehend, projiziert sich zuletzt ihr Welt- und Selbsthass auf Dritte, die ihnen eben dadurch zu Repräsentanten des Bösen geraten. "Ihr liebt das Leben, wir den Tod", bekannten die muslimischen Massenmörder von Madrid im März 2004. Übersetzt ins psychologisch Richtige: "Ihr Europäer der Moderne lernt das Leben wieder lieben; aber wir, die wir noch verfangen sind in altem Wahn, hassen uns - und deshalb euch: denn Gott ist fern, uns aber groß und allmächtig." Bis auf weiteres bleibt freilich festzuhalten: Das Gotteskriegertum des Nationalsozialismus ist ob des Grads an Perversion, industrieller Perfektion und staatspolitischer Organisation mit dem des Islam nicht zu vergleichen.
Aber sollen wir angesichts des islamischen Gotteskriegertums wirklich jenen Beschwichtigungen glauben, die solchen "Islamismus" vom "wahren Islam" streng trennen? Die öffentliche Diskussion über den Islam hat noch nicht wirklich begonnen, meint Harald Strohm, zumindest noch nicht mit den Mitteln "der Moderne". Selbst elementare Einsichten blieben bislang unbeachtet; zum Beispiel die, dass jedes ideologische System in seinen Wirkungen kontextabhängig ist. Erst dieser Zusatz macht die verschiedenen Gesichter des "wahren Islam" verständlich. Denn natürlich hat auch der Islam - in entsprechenden Kontexten - das Zeug zu Friedfertigkeit, Weltoffenheit und kultureller Blüte. Aber in anderen Kontexten hat er - und hatte er schon unter Mohammed - eben auch aggressive, autoritäre und menschenverachtende Züge.
Eine weitere, spätestens seit Nietzsche und Freud etablierte Einsicht der Moderne lautet: Solange Menschen solche Schatten und Altlasten kollektiv verleugnen und verdrängen, schwelen sie untergründig weiter und bleiben gerade dadurch unberechenbar und gefährlich. Das gilt natürlich auch für das Christentum, wo nach 200 Jahren Aufklärung zwar keine Ketzer mehr brennen müssen, aber die Verdrängung von einem halben Jahrtausend Inquisition noch merkwürdige Blüten treibt: 1998 habe ich bei der Frankfurter Buchmesse dem Verleger Bernhard Meuser den Vorschlag gemacht, zu meinem Film "Herrn Hitlers Religion" ein Buch zu schreiben, was dieser begeistert aufnahm: "Das ist es - die Wurzeln des Nationalsozialismus in den esoterischen Bewegungen des 19. Jahrhunderts." Nach meinem Einwand, dass man wohl nicht alles der Esoterik in die Schuhe schieben könne und wohl auch christliche Traditionslinien aufzeigen müsse, habe ich von dem guten Mann nie wieder etwas gehört.
Sechs Jahre später liegt nun das Ergebnis meiner Anregung vor: "Hitlers Religion" von Michael Hesemann. Darin walzt der Autor zwar das Material aus meinen Filmen "Adolf Lanz - Mein Krampf", "Herrn Hitlers Religion" und "Erlöser" aus, aber eben unter Weglassung der christlichen Traditionslinien. Er stellt Hitlers Religion als Gegenreligion zum Christentum dar, vor allem zum Katholizismus. Der österreichische Bischof Alois Hudal, der schon in den Dreißigerjahren den Nationalsozialismus als die Ideologie für Christen bejubelt und nach dem Weltkrieg die "Rattenlinie" (Flucht der KZ-Schergen nach Südamerika) mitorganisiert hat, wird nur in einer vatikanfreundlichen Episode als "Opportunist" erwähnt. Das Buch gipfelt in der Vermutung, dass bei einem Weiterbestand des Dritten Reiches der nächste Holocaust den Katholiken gegolten hätte.
Geschichtsfälschung durch Weglassung - das werfen sich auch Israelis und Palästinenser vor. Denn was für die Israelis der Unabhängigkeitskrieg von 1948 und ein großer Sieg war, das nennen die Palästinenser "Nakba", die "Katastrophe": die Vertreibung der Palästinenser, die Zerstörung von Dörfern, die Abschiebung in Flüchtlingslager. Plötzlich unterbricht Otman die Diskussion, schaut in die Kamera: "Es war vereinbart, nicht über Politik zu reden, sondern nur über Identitäten. So war das nicht ausgemacht." Die arabischen Jugendlichen schauen verlegen zu Boden, Nili versteht ihren Kollegen, meint, wenn das der Geheimdienst sehe, sei mit Konsequenzen zu rechnen. Doch die Jugendlichen wollen das nicht so im Raum stehen lassen. Spontan veranstalten sie ein Fußballspiel der beiden Klassen, und weil da die arabischen Schüler erfahrungsgemäß gewinnen, herrscht bald wieder gute Stimmung. Nili meint, mit Tränen in den Augen: "Auch wenn es schmerzt, wir müssen Strategien finden, miteinander zu leben. Deshalb sind diese Friedenscamps so wichtig."
Am Abend sind Musik und Tanz angesagt, und man umarmt einander, ist unter Freunden. Der Abschied vor der Rückreise nach Israel wird tränenreich, und man merkt den Jugendlichen an, dass sie es ehrlich meinen. Für Ben war es das wichtigste Erlebnis in seinem bisherigen Leben, und auch Samah wird dieses Treffen nie vergessen. Ist da in den Gesichtern einiger Erwachsener ein Anflug von Scham, warum es nicht immer so sein kann?
Zwei Monate später treffen wir die Jugendlichen in Israel wieder, und nichts von ihrer Begeisterung ist verflogen. Wir treffen allerdings auch andere Kinder, die von der Gewalt, die sie erleben mussten, traumatisiert sind: "Als ich schlief, träumte ich von einem israelischen Flugzeug, das anfing, unser Haus zu beschießen und zu bombardieren. Ich war im Haus und fiel auf den Fußboden. Eine Rakete traf mich auf dem Kopf. Ich fühlte, wie mein Kopf von meinem Körper abfiel; ich hatte große Angst und wachte vor Schreck auf."
Dazu eine Therapeutin des Hadassah Spitals in Jerusalem: "Welche Auswirkung wird das auf die junge Generation haben, die der Gewalt Tag für Tag ausgesetzt ist? Einige Kinder, die Opfer der Gewalt wurden und überlebten, haben immer noch eine enorme Fähigkeit, auch das Leid ihres ,Feindes' nachzuvollziehen. Aber gesamtgesellschaftlich betrachtet führt die Gewalt zu mehr und mehr primitiven Verhaltensmustern. Beide Seiten identifizieren sich vollkommen mit der Rolle des Opfers und verleugnen ihre eigene Aggressivität." [*]
Walter Wehmeyers Dokumentarfilm "Naher Osten - Hoffnung und Trauma der Jugend" wird am 28. November bei der Jüdischen Filmwoche im Wiener Cinema de France uraufgeführt. Beginn 18.30 Uhr.

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